12. August 2005 (Bauwelt, 31/05)

[13terStock] - Ein interaktiver Dokumentarfilm

„Elegant wohnen am Strom“ – diesen Satz hatte Heinrich Böll als Werbung für die Satellitenstadt gewählt, in der seine Protagonistin seiner Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum wohnen ließ. 1974, im Erscheinungsjahr des Buches, war es zeitgemäß, Großwohnanlagen solcherart zu apostrophieren. Vermutlich ist auch die drei Jahre zuvor bezogene „Grohner Düne“ in Bremen-Vegesack damals so angepriesen worden. Die gegenwärtige Realität des an der Weser gelegenen Wohnkomplexes haben der Filmemacher Florian Thalhofer und der Literaturkritiker Kolja Mensing in einem interaktiven „Heimatfilm“ dokumentiert, der jetzt als DVD erschienen ist. Der Titel „13terStock“ bezeichnet die Lage der Wohnung, in der die beiden Autoren einen Monat lang lebten. Hier wurde das Material gesichtet, das Video geschnitten, wurden die Eindrücke und Erlebnisse in Form eines Tagebuchs ins Internet gestellt.
Einst war die „Grohner Düne“ als Wohnbild des Fortschritts begehrt, doch schnell verkam sie zu einem Hort von Kriminalität, Drogenhandel und sozialer Unausgewogenheit. Der anheimelnde Name geriet immer mehr in Gegensatz zur Realität und wurde zu einem Synonym für die Fehlleistungen moderner Stadtplanung. Diese wechselhafte Geschichte, die für viele der um 1970 errichteten Wohnanlagen typisch ist, bildet den Hintergrund für die sehr individuell geprägten Lebenswelten, von denen der Film berichtet. Das sind nicht die Geschichten aus dem Vorabend-Programm mit ihren Patchwork-Familien aus den Vororten mit Doppelgaragen. In 527 Wohneinheiten leben fast 1.800 Menschen, vom deutschen Erstbezieher über Türken der zweiten Generation, vom 25jährige Frührentner bis hin zu albanischen Asylbewerbern. Dazwischen Alltäglichkeit, die erst im Film gebannt zur Reflexion anregt – wie etwa der Sarkasmus und gleichzeitige Hilflosigkeit einer alten Dame, die mit einem Auflachen und einer wegwerfenden Handbewegung von denen spricht, die sich vom Dach gestürzt haben.
Seitdem die „Grohner Düne“ von einer Wachschutzgesellschaft betreut wird, sind Kriminalität und Vandalismus deutlich zurückgegangen, das Gebäude ist ausgelastet, Wohnungen und Außenräume werden in Schuss gehalten - hier stehen weder Abriss noch eine strukturelle Umgestaltung zur Diskussion. Der Film gibt das Dasein in Wohnungen wieder, die auch heute in ähnlicher Ausstattung entstehen könnten, mit Menschen, die von Hochhausdebatten nichts wissen wollen. Die Architektur ist in dieser Hinsicht eine Marginalie, andererseits aber auch Identitätsmerkmal der Bewohner.
Die beiden Autoren halten sich mit Architekturkritik zurück. „Die Wahrheit ist, dass wir Diebe, Straßenräuber und Wegelagerer sind, und dass wir, wenn man uns die Gelegenheit dazu gibt, den Menschen ihre Geschichte stehlen.“ räumt Mensing ein. Der Zuschauer bestimmt allerdings die Reihenfolge der erbeuteten Teile. Nach Ablauf eines der nicht länger als drei Minuten langen Stücke werden drei mögliche Fortsetzungen zur Wahl gestellt, und so wird ein etwa 90 Minuten langer eigener Film daraus, Wiederholungen ausgeschlossen. Im eigenen Tempo läßt man sich von der Erzählung gefangen nehmen, die ein differenziertes Bild vom Leben nach der Planung entstehen läßt.

MICHAEL KASISKE

Kolja Mensing, Florian Thalhofer: [13terStock]
Die DVD-Rom (mit englischen Untertiteln) und Booklet, erschienen im Verbrecher Verlag Labisch & Sundermeier, Berlin, kostet 15 Euro, Info unter www.13terstock.de