13ter Stock
Home Sweet Home

von Dietmar Kammerer

Die Grohner Düne im Norden von Bremen ist ein Paradebeispiel für die
Stadtentwicklung der letzten 30 Jahre und den Absturz, den so manche auf
dem Reißbrett entworfene städteplanerische Fantasie erleben musste. In
den 1970er Jahren führte der Königsweg der urbanen Moderne raus aus den
Innenstädten, wo neue Zentren als Großwohneinheiten entstanden:
Fahrstühle, Tiefgaragen, Einkaufszentrum auf der Wiese nebenan. Kleine
Ersatzstädte an Stelle der von Verkehr verstopften Innenstädte, vor
denen man geflohen war. Es folgte der Niedergang: Drogen, Kriminalität,
Ghettobildung - auf einmal heißt dein Wohnort in den Medien "sozialer
Brennpunkt", als ob "sozial" ein Schimpfwort wäre. Auch die "Düne" in
Bremen hat das erlebt. Eine Adresse wie ein Brandmal.

Kolja Mensing und Florian Thalhofer sind dort für vier Wochen mit
Mikrofon und Videokamera in den 13.Stock eingezogen. Entstanden ist die
Dokumentation eines Ortes und seiner Bewohner, über die in den Bremer
Zeitungen viel geschrieben wird, ohne dass jemand mit ihnen geredet
hätte. Natürlich gab es Vorbehalte, auf beiden Seiten: Was wollt ihr
hier, ihr sucht doch bloß nach den Geschichten, die ihr eh schon im Kopf
habt! Viele solcher Stories haben die beiden Dokumentarfilmer auch
gefunden, sie heißen "Klauen" oder "Junkies". Und natürlich ist der Grat
zum Elendstourismus ein verdammt schmaler: Zwei
Prenzelberg-/Mittebewohner, in der westdeutschen Provinz im
Einfamilienhaus aufgewachsen, immer im eigenen Garten getollt, schauen
sich mal bei denen um, die Bürgerkrieg/Armut/Alkohol so an den Rand der
Städte und der Gesellschaft geschwemmt haben. Dagegen hilft nur genau
die Offenheit, mit der Mensing und Thalhofer damit umgehen. "Die
Wahrheit ist, dass man uns nicht trauen kann. Die Wahrheit ist, dass wir
den Menschen ihre Geschichten stehlen." Denn wie alle Dokumentarfilmer
sind sie Geschichtenräuber. Und wie alle guten Dokumentarfilmer machen
sie diejenigen, die sie filmen, zu Subjekten ihrer eigenen Geschichten.

Während sich normalerweise hinter dem Schlagwort "Interaktivität" die
grauenvollsten, nicht funktionierenden Technikspielereien ihre üble
Fratze verbergen, hat man auf der DVD kluger- und glücklicherweise so
wenig Interaktionismus als möglich untergebracht. Man sollte sich von
dem Untertitel "Interaktiver Dokumentarfilm" keineswegs abschrecken lassen.

Spex, August 2005