Nah genug an den TV-Satelliten

13. Stock (4 und Schluss): Navigationsfehler. Vor drei Jahren hatte Jochen einen Unfall beim Fallschirmspringen. Nach dem Krankenhaus brauchte er schnell eine Wohnung. So kam er in die Grohner Düne, wo er nun lebt - von 500 Euro Arbeitslosenunterstützung und mit 2.000 Fernsehkanälen
VON KOLJA MENSING

Keine Filmaufnahmen, das ist die Bedingung. Dafür bekommen wir eine Privatvorstellung. "Setzt euch." Tabakkrümel und abgebrannte Streichhölzer auf dem Sofa, im Regal stehen neben einem Band Wilhelm Busch gleich zwei Videorekorder. Der Panasonic-Fernseher ist wahrscheinlich der teuerste Gegenstand in Jochens Einzimmerwohnung in der Grohner Düne.

Mit einem leicht modifizierten Satelliten-Receiver von Winstec - "Man muss nur die richtigen Leute kennen" - empfängt Jochen knapp 2.000 Programme, darunter zahlreiche Pay-TV-Programme. Kostenlos, natürlich. "Aber das bleibt unter uns." Russisches Frühstücksfernsehen, ein arabischer Musiksender mit Erotic Chat, auf EuroNews laufen unkommentierte Bilder aus der Imam-Ali-Moschee, Lesbian Weekend auf Spice Premium. 24 Stunden Pornografie. "Nach drei Tagen wird das auch langweilig."

Jochen ist 45 und Schwabe. Nach der Schule lernt er Fernmeldetechniker bei der Post und arbeitet dann einige Jahre in der Civilian Labour Group der U.S. Army in den Nellingen Barracks. Er wartet das marode Telefonsystem der Wehrmacht, das die Besatzungstruppen 1945 übernommen haben. "Adolf Hitlers Rache." Damals lernt Jochen Sherylin kennen, Sherylin Rose Hutton, eine amerikanische Soldatin, die ihn zwischen ihren Wachdiensten sogar ganz offiziell mit auf die Stube nehmen darf. Selbst als der Sergeant sie zusammen im Gemeinschaftsraum unter dem Billardtisch erwischt, kommen sie glimpflich davon.

Jochen fühlt sich wohl bei der Army. Sherylin und er reden über Heirat und ein gemeinsames Leben in den USA. Spätestens als die Bundeswehr den Wehrpflichtigen aus dem Arbeitsverhältnis mit dem Nato-Partner herausklagt, ist die Geschichte vorbei. Jochen wird zum Richtfunker ausgebildet und lernt Fallschirmspringen. Anschließend weiß er genug, um anständige Jobs zu bekommen. Er arbeitet für Sicherheitsfirmen, ist eine Zeit lang sogar als Techniker im öffentlichen Dienst beschäftigt. Er zieht nach Norddeutschland, in den Neunzigerjahren stellt er Handymasten auf. Jochen klettert auch bei Sturm auf Dächer und Stahlmasten. Höhenangst kennt er nicht, schließlich ist er seit seiner Bundeswehrzeit passionierter Fallschirmspringer.

Vor drei Jahren passiert es dann. Ein Pilot begeht einen Navigationsfehler, Jochen ist der Einzige seiner Gruppe, der den Absprung über einem Waldgebiet überlebt. Seitdem leidet er unter Gleichgewichtsschwankungen, und von seinem alten Leben ist nicht viel übrig geblieben - außer einem alten Videorekorder, den er aus Sentimentalität aufbewahrt hat.

Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wird, braucht er schnell eine Wohnung. So ist er in der Grohner Düne gelandet, im dritten Stock, gerade hoch genug, um die drei Satelliten von seinem Balkon aus anpeilen zu können. Jochen lebt von 500 Euro Arbeitslosenhilfe und ein paar Jobs, die er nebenher erledigt. Umzüge, Haushaltsentrümpelungen. Nach und nach ist so auch eine Wohnungseinrichtung für ihn abgefallen und ein zweiter, besserer Videorekorder.

Bevor wir gehen, fragen wir ihn nach seiner Telefonnummer. Die Prepaid-Karte ist leer, der Festnetzanschluss ist dem Fernmeldetechniker schon vor einem halben Jahr gekündigt worden. Vorher hat er noch ein Auslandsgespräch in die USA geführt. Jochen hat mit dem Büro des Sheriffs in der kleinen Stadt im Mittleren Westen telefoniert, von der eine amerikanische Soldatin ihm vor 25 Jahren in den Nellingen Barracks erzählt hat. Sherylin Rose Hutton heißt mit Nachnamen jetzt Ericsson, so viel hat er in Erfahrung gebracht. Die Nummer hat er sich nicht geben lassen.

Kolja Mensing und Florian Thalhofer verbringen den Sommer im 13. Stock in Bremen-Nord, um einen Dokumentarfilm über die Grohner Düne zu drehen. Die erste Fassung ist ab heute unter www.13terStock.de zu sehen

taz Nr. 7449 vom 31.8.2004, Seite 17, 131 TAZ-Bericht KOLJA MENSING