Short Cuts der Videoüberwachung

Eine Prolepse nennt man in der Rhetorik die Figur der Vorweg nahme. So rasant nun die Entwicklung der Hightech-Märkte vor sich geht – so sehr beruht das Bild, das sie vor sich hertragen, auf ebendiesem Trick der Prolepse. Es sind nicht unbedingt leere Versprechungen. Aber die großen Umwälzungen brechen nicht wie angekündigt herein. Bei aller Geschwindig keit, mit der eine medientechnische Neuerung die andere jagt, verändert sich die Welt um uns herum doch eher schleichend. Wie lange schon ist etwa vom interaktiven Fernsehen wie vom interaktiven Kino die Rede? Keines von beidem ist bisher durchgreifende Realität geworden. Ebenso unvermerkt wie unleugbar hat dagegen jene Silberscheibe unser Hören und Sehen verwandelt, die zunächst als CD, dann CD-ROM und schließlich als DVD und DVD-ROM die Regale des Fachhandels, der Supermärkte, Kioske, Videotheken und längst auch schon gut sortierter Buchläden erobert hat.

Und wie gut, daß es diese Scheiben gibt! Als DVD für Mac und PC ist jetzt eines der bislang seltenen überzeugenden Bei spiele eines interaktiven Films erschienen. Ein "interaktiver Heimatfilm", um genau zu sein. Ein Dokumentarfilm in "Shortcuts"-Manier, nur daß sich die einzelnen Szenen nicht immer mehr zu einer linearen Spielfilmhandlung schließen, sondern mit offenem Ende nebeneinander herlaufen, Ausschnitte aus Interviews und Erzählungen, in denen die Bewohner einer norddeutschen Trabantenstadt von ihren Leben und Meinungen berichten.

Die Grohner Düne im Norden von Bremen. Eine Hochhaussiedlung der 70er Jahre wie die Nordweststadt vor Frankfurt, wie Gropiusstadt in Berlin. Mit über 500 Wohneinheiten bietet sie rund 1500 Menschen ihren Lebensraum. Einer der Befragten erzählt, daß er zwar manchmal die Wohnung, aber nie die Grenzen dieser Siedlung verläßt. Ein anderer ging fort und ist nun zu Besuch, um den Ort seiner Kindheit wieder zusehen. Ein dritter, der vor dreißig Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kam, betreibt inzwischen seinen Kramladen hier. Eine vierte schloß sich eines Tages den Zeugen Jehovas an, sorgt im Treppenhaus für Sauberkeit und findet, wie sie sagt, tatsächlich Trost im Wort der Bibel. Wieder andere schließlich gestehen die kleinen Ladendiebstähle, ohne die man nicht überleben kann, oder erwähnen wie selbstverständlich, obwohl selbst betroffen, daß "Zigeuner" das meist gebrauchte Schimpfwort in der Grohner Düne ist.

Wäre nicht die Zeugin Jehovas in ihrer Biederkeit, wäre nicht der kurz-rhythmische interaktive Wechsel vom einen Unglück zum anderen – das Ganze liefe Gefahr, in schlechter Sozialromantik zu enden. "Es gibt ja hier viele Problemfälle ... Alkoholiker ... Drogen ...", sagt die Frau in die laufende Kamera. Diese Kamera aber geht dem nicht in die Falle. Wie wohl die meisten solcher Siedlungen geriet auch die Grohner Düne unaufhaltsam in Verruf. "Drogen, Kriminalität und Ghettobildung: Hier wohnen nur noch die, die keine Wahl haben. Zuletzt wird immer wieder von Abriß gesprochen. Doch die Düne bleibt. Man versucht zu reparieren, was zu reparieren ist. Die Erfolge der Bausanierung und des social engineering werden durch eine 24-Stun den-Videoüberwachung und einen privaten Wachschutz abgesichert" – und nicht zuletzt diese Sicherstellung ist nun Teil der hier gezeigten Kamerarealität.

Während der Dreharbeiten haben sich Kolja Mensing und Florian Thalhofer, die beiden Autoren dieses Films, selbst in der Grohner Düne eingemietet, im 13. Stock, der ihrem Film den Titel gab. "Wie weit", fragen sie, "kann man heute schon vom 13. Stock aus in die Zukunft sehen?" Einer der vielen kurzen tracks, durch die sich der Betrachter mit der Maus hindurch klicken muß, und deren Reihenfolge bei jedem Wiederansehen variiert – einer dieser tracks also zeigt schlicht die Bilder, die in der Grohner Düne von den Videoüberwachungskameras auf gezeichnet werden. Ein anderer verwendet eine Fernsehreportage, die über das Projekt der beiden Video- und Computerkünstler berichtete. So werden sie Teil ihres eigenen Films, der wiederum Teilhaber der um sich greifenden Bilderwelt ist. Sieht so die Zukunft aus? Eine überzeugende Antwort, wie heutige Wirklichkeit zu zeigen ist, hat der Film damit jedenfalls gefunden.

[13ter Stock]. Ein interaktiver Dokumentarfilm von Florian Thalhofer und Kolja Mensing, DVD-ROM für PC und Mac, Ver brecher Verlag Berlin 2005.

© Bernhard Dotzler